Was viele falsch einschätzen oder nicht wissen: Stress kann sowohl aus einer Über- als auch aus einer Unterforderung resultieren. Und beides kann zu Erkrankungen oder Störungen bis hin zu Depressionen führen. Der Ergotherapeut Heringhaus führt die aktuell auffällige Zahl junger Menschen an, die sich wegen ihrer akuten Depression in eine Klinik einweisen lassen. Eine im Dezember veröffentlichte Befragung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung untermauert dies: Der Anteil von Frauen bis 60 Jahre mit moderat bis schwer ausgeprägten depressiven Symptomen stieg bereits im ersten Lockdown deutlich von 6,4 auf 8,8 Prozent. Von zunehmendem Stress berichteten alle Alters- und Geschlechtsgruppen. „Das bestätigt, wie wichtig Aufklärung ist“, betont Heringhaus und wünscht sich eine intensivere, flächendeckende Informationskultur einerseits, Akzeptanz bei den Betroffenen selbst andererseits, so dass sie in einem frühen Stadium entsprechende körperliche Anzeichen erkennen und sich für professionelle Hilfe öffnen lernen.
Körperliche Anzeichen: Stresswarnsymptome
Dass Stress die körperliche Reaktion auf eine Über- oder Unterforderung ist, können oder wollen Betroffene nicht immer selbst realisieren. Auf seinen Körper zu hören und sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, erscheint manchem unangenehm. Jedoch: Körperliche Anzeichen haben eine Bedeutung. So sind zum Beispiel Schmerzen grundsätzlich ein Alarmsignal und können auch ein Stresswarnsymptom sein. Anerzogene Verhaltensmuster oder Durchhalteparolen sind daher absolut fehl am Platz. Das Ignorieren von Kopf- oder Rückenschmerzen, Magenproblemen, Zähneknirschen, Verspannungen oder anderen Beschwerden wie Erschöpft- oder Ausgelaugtsein führt auf Dauer zu einer Verschlimmerung – sowohl der Beschwerden selbst als auch der seelischen Verfassung, denn auch Schmerzen selbst bereiten dem Körper Stress. Der erste Schritt sollte deshalb immer das medizinische Abklären sein, beispielsweise bei Haus- oder Fachärzt:innen. Sind die Symptome seelisch bedingt, stehen deutschlandweit unter anderem Ergotherapeut:innen, die im Bereich Psychosomatik und Psychiatrie spezialisiert sind, zur Auswahl.
Stressfaktoren herausfinden
Es ist davon auszugehen, dass sich durch die Bedingungen in der Pandemie wie Homeoffice, Kontaktbeschränkungen, Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit bei vielen vermehrt soziale und/ oder berufliche Stressoren zu einer Belastung auswachsen, die die Betroffenen auf Dauer nicht alleine bewältigen können. Soziale Stressoren sind beispielsweise Isolation, Konflikte oder ein negatives Familienklima; berufliche Stressoren Zeit- und Leistungsdruck, Monotonie, Über- oder Unterforderung. „Nicht jedem ist bewusst, wie sehr bestimmte Faktoren ihn – möglicherweise mit der Zeit – stressen, gerade, wenn er- oder sie sich an eine Situation gewöhnen möchte“, sagt der Ergotherapeut Fabian Heringhaus und erklärt, es sei ein typisch ergotherapeutisches Vorgehen, sein Gegenüber feinfühlig zu befragen, mit viel Gefühl auf Zwischentöne zu achten und nötigenfalls weiter und tiefer nachzuhaken. Der Ergotherapeut fährt fort: „Bereits im Gespräch oder spätestens bei der jeweils folgenden gemeinsamen Reflexion oder durch Selbstreflexion kommen die nötigen Erkenntnisse und die Zusammenhänge zwischen Symptomen und Stressoren, zutage“. Zusätzlich sind Modelle aus der Psychiatrie hilfreich. Heringhaus arbeitet unter anderem mit dem Modell von Matthias Hammer. Mithilfe von Schaubildern wie dem sogenannten WEG-Modell können Betroffene ihren jeweiligen Status quo leichter beschreiben. Sind sie auf dem Weg der optimalen Anforderung, sprich: können sie alle Situationen des Alltags gut bewältigen? Oder ist die Belastung so groß, dass sie sich Richtung Abgrund bewegen? Unterforderung wird im Wegmodell als Sumpf dargestellt – eine Metapher, die nicht nur Betroffene selbst gut nachempfinden können.
Persönliche Schutzfaktoren
Was gestresste Menschen im Laufe einer solchen ergotherapeutischen Intervention ebenfalls lernen, ist: verstehen, dass es eine Schwelle gibt, an der sie an ihre persönliche Grenze kommen, weil sie zu viel Stress in sich aufgenommen haben. Überschreiten sie diese Grenze immer wieder oder dauerhaft, kann es zu Depressionen kommen. Um dem entgegenzuwirken, finden Ergotherapeut:innen gemeinsam mit ihren Patient:innen und Klient:innen heraus, welche Bewältigungs- und Schutzstrategien diese bereits kennen oder für welche sie sich begeistern können. „Unsere Berufsgruppe orientiert sich immer an den Besonderheiten und individuellen Bedürfnissen der jeweiligen Person und leitet sie zur für sie bestmöglichen Lösung“, sagt Heringhaus. Er erläutert dies mit Beispielen: „Regelmäßige Meditation, Yoga, Muskelrelaxation, Spaziergänge in der Natur oder sich beim Sport auspowern sind klassische Bewältigungsstrategien, um das Stresslevel herunterzufahren. Aber ebenso gut kann das Kaffeekränzchen mit der Mutter zur Beruhigung beitragen. Will sagen: Das, was beim Einen Stress nimmt, kann beim anderen Stress erzeugen. Und was das ist, finden wir gemeinsam heraus“. Ergotherapeut:innen sensibilisieren Gestresste auch für Neues. Sie ermutigen sie, etwas nicht nur einmal auszuprobieren, sondern es auch dann weiter zu versuchen, wenn es nicht auf Anhieb funktioniert. Selbst Methoden zur Entspannung erfordern Übung. Manchmal gelingt etwas besser oder schneller, wenn die behandelnden Ergotherapeut:innen mitmachen. Ebenso wie das Mitmachen gehören pädagogische Kontrollmechanismen als edukatives und motivierendes Verfahren zu einer ergotherapeutischen Intervention. Behandlungserfolge stellen sich nur bei entsprechender Nachhaltigkeit ein. Betroffene müssen daher mit Fragen wie ‚Hat das zuhause geklappt?‘ Oder ‚Wie und wie oft wurde das Erlernte umgesetzt?‘ rechnen.
Umfeld als Ressource
Eine weitere, die Intervention unterstützende Ressource stellen Angehörige oder nahestehende Menschen dar. Das Umfeld ist eine wichtige, die eigenen Fähigkeiten verstärkende Quelle und spielt daher im Rahmen einer ergotherapeutischen Intervention nahezu immer eine Rolle. Sich mit Freunden oder Familie – im Moment verstärkt virtuell – weiterhin zu verabreden, ist essenziell. Gemeinsam Sport ausüben, sich austauschen und diskutieren, zusammen ein Feierabendbier trinken, sich gegenseitig mitziehen und aufeinander aufpassen sollte auch und gerade in Krisenzeiten stattfinden. Auch wenn es eine andere Qualität hat als bisher: digital ist vieles möglich. Heringhaus selbst trifft seine Lachyogagruppe nach wie vor einmal wöchentlich. Seit der Pandemie sehen sie sich nur noch auf dem Bildschirm. Die Erfolge ungehemmten Lachens sind dennoch da und der Ergotherapeut ermuntert alle – unabhängig vom Ausmaß der persönlichen Stresssituation –, kreativ zu sein, für sich selbst oder gemeinsam mit anderen Ideen zu entwickeln, um das Miteinander aufrechtzuerhalten. Die Pandemie geht so wie alle Pandemien vorbei. Heißt bis dahin: Gesund bleiben an Körper, Geist und Seele – bei Bedarf mit professioneller Hilfe.
Informationsmaterial zu den vielfältigen Themen der Ergotherapie gibt es bei den Ergotherapeuten vor Ort; Ergotherapeuten in Wohnortnähe auf der Homepage des Verbandes unter https://dve.info/service/therapeutensuche
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