Wer jemals Rollstuhlsportmannschaften zugesehen hat, weiß, wie unglaublich wendig, geschickt und schnell sich Menschen mit ihrem Rollstuhl bewegen können. Nicht jede beziehungsweise jeder Betroffene ist derart ambitioniert; Selbstständigkeit und Mobilität streben aber alle an, was manchmal ein längerer Weg ist. Das liegt jedoch nicht immer an der eigenen Unfähigkeit, sondern kann beispielsweise mit einem ungeeigneten, nicht passenden Rollstuhl zusammenhängen. „Der Rollstuhl ist bei den meisten Fachberufen und -disziplinen, mit denen Rollstuhlfahrer:innen zu tun haben, ein „Stiefkind“ – sie kennen sich kaum damit aus, weil sie ganz andere Betätigungsschwerpunkte haben“, weiß der Ergotherapeut Patrick Krause. Dabei gibt es Fachleute. Es ist im Leistungskatalog von Ergotherapeut:innen verankert, sich um den Alltag ihrer Patient:innen und ebenso um geeignete Hilfsmittel und deren Gebrauchstraining zu kümmern. In diesem Fall um den Rollstuhl. Hierfür benötigen Betroffene eine Verordnung für Ergotherapie, sobald feststeht, dass sie einen Rollstuhl bekommen.
Ergotherapeut:innen verleihen der Wahl des Rollstuhls einen Mehrwert
Seine Intervention startet Patrick Krause mit einem ausführlichen Gespräch. Der Ergotherapeut dazu: „Nach der Anamnese, also Fragen zum Gesundheitszustand, ist zu klären: Wie sieht der Alltag meines Gegenübers aus und welche Ziele hat er oder sie“? Es ist ein typisch ergotherapeutisches Vorgehen, die ganz eigene, persönliche Lebenssituation der Patient:innen zu beleuchten und daraus gemeinsam Bedürfnisse und Anliegen abzuleiten. Systematisch beginnen Ergotherapeut:innen zunächst mit der Physiologie, begutachten die anatomischen Grundlagen ihrer Patient:innen wie etwa Körpergröße oder Sitzposition und ob sie den Rollstuhl selbst antreiben können. Manche Erkrankungen oder Unfallfolgen wie etwa ALS oder Querschnittlähmung mit fehlender Armkraft können einen elektrischen Rollstuhl erfordern. Als Interimslösung oder beispielsweise als Fortbewegungsmittel für Menschen mit Demenz oder altersbedingter Gebrechlichkeit kommt der Standard- oder Leichtgewichtrollstuhl in Betracht. Dieser lässt jedoch wenig Spielraum für individuelle Belange. Für viele, die den Rollstuhl selbst antreiben und auch für Menschen ab 1,80 m Körpergröße ist ein sogenannter Adaptiv- oder Aktivrollstuhl Mittel der Wahl. Diese Variante verfügt über mindestens sieben einstellbare Komponenten und weitere individuell wählbare Faktoren. Auch gibt es Extras wie etwa eine Hubfunktion, die den Sitz des Rollstuhls nach oben bewegt oder sogar eine aufrechte, stehende Position ermöglicht. Diese Funktionen können gerade im beruflichen Kontext erforderlich sein.
Ergotherapeut:innen nehmen dem Rollstuhl das Stigma
Hat sich herauskristallisiert, welche Art von Rollstuhl sinnvoll ist, geht es an den Feinschliff, sprich die persönlichen Anliegen und Wünsche sowie weitere Gegebenheiten. „Lebt ein Patient oder eine Patientin in einem städtischen Umfeld, spielen ganz andere Aspekte eine Rolle als bei denen, die ländlich wohnen“, verdeutlicht der Ergotherapeut seine Herangehensweise und erklärt weiter: „Auf dem Dorf kann beispielsweise die Beschaffenheit der Wege eine Rolle spielen, was die Wahl der Reifen für den Rollstuhl beeinflusst“. Wer hingegen selbst Auto fährt, benötigt einen leichten und leicht handhabbaren Rollstuhl, der im Zweifelsfall sogar in ein bereits vorhandenes Fahrzeug passen muss. Diejenigen, die gerne ausgehen, aber bereits wissen, dass sie mit ihrem Rollstuhl in eine reguläre Toilette passen müssen, wünschen sich zu Recht einen hierfür passenden, wendigen Rollstuhl. „Das ist alles machbar“, sagt Krause und betont, dass es bei Ergotherapeut:innen immer darum geht, die individuelle Lebensweise und somit mehr Lebensqualität für Rollstuhlfahrer:innen zu ermöglichen. Das nimmt den Betroffenen zudem das Gefühl und Stigma des Behindertseins. Das Stigma, das einen Rollstuhl noch immer sehr oft begleitet.
Mithilfe von Ergotherapeut:innen durch den Antragsdschungel
Was sich zielgerichtet und sinnvoll anhört, entspricht jedoch nicht immer der Praxis. Die Wahl des Rollstuhls ist nicht immer eine echte Wahl. Patrick Krause hat in seiner Berufslaufbahn als Ergotherapeut schon einiges erlebt. Das beginnt beim Beantragen der „Extras“ – alles, was mehr kostet, erfordert einen Antrag und eine Begründung. Ergotherapeuten unterstützen ihre Patient:innen auch hier, insbesondere beim Formulieren schlagkräftiger Argumente. Es gibt auch Fälle, da passt der Rollstuhl einfach nicht, weder in anatomischer noch in Hinsicht auf die Alltagstauglichkeit oder persönliche Interessenslage. „Bei der Krankenkasse kann es sein, dass man einen gebrauchten Rollstuhl, der von den Maßen her einigermaßen passt, bekommt“ klärt Krause auf. „Einigermaßen“ kann aber darin münden, dass der oder die Nutzer:in im Alltag nicht mit dem Rollstuhl zurechtkommt. In der Folge nicht mobil ist, weil sich beispielsweise keine Bordsteine überwinden lassen, das Antreiben nicht gut funktioniert, die Schultern fehlbelastet und geschädigt und darüber hinaus keine längeren Strecken zurückgelegt werden können. Ein derartiger Rollstuhl verfehlt seinen Zweck, verhindert Mobilität und dadurch Teilhabe. Passieren solche Dinge, unterstützen Ergotherapeut:innen ihre Patient:innen dabei, die erforderlichen Anträge zu stellen. Sie kennen die jeweiligen Adressaten, können überzeugende Stellungnahmen verfassen und erreichen so in aller Regel, dass ein geeigneter Rollstuhl bewilligt wird. Der Ergotherapeut Krause berichtet in diesem Zusammenhang von einem Rollstuhlfahrer, der nach einer Umversorgung – so nennt sich in Amtsdeutsch der Vorgang des Tauschs – eine sportliche Karriere gestartet und es sogar zum Trainer in seiner Sportart geschafft hat.
Ergotherapeut:innen stehen für mehr Wirtschaftlichkeit und Gesundheit
Häufig kommen Rollstuhlfahrer:innen erst dann zu Ergotherapeuten wie Patrick Krause, wenn sie Probleme mit ihrem Rollstuhl haben und dieser sich im Alltag als Hindernis erweist. Im Sinne einer optimalen Versorgung von Rollstuhlfahrer:innen wünscht sich der Ergothearpeut auch aus diesem Grund, dass Ärzt:innen Ergotherapie generell genauso selbstverständlich auf dem Schirm haben, wie alle anderen notwendigen Maßnahmen. „Rollstuhlfahrer:innen begegnen täglich Hürden – häufig auch in den Köpfen anderer Menschen. Wenigstens sollte von Anfang an gewährleistet sein, dass ihre Versorgung und Betreuung durch die Fachdisziplin erfolgt, die sich um Mobilität im Alltag, Teilhabe und Lebensqualität kümmert“, macht sich der Ergotherapeut für Rollstuhlfahrer:innen stark. Er fasst abschließend zusammen: „Durch eine stringent zielgerichtete Betreuung von Rollstuhlfahrer:innen entsteht eine Win-Win-Situation für alle. Der adäquate Rollstuhl muss physiologisch perfekt sein und sich leicht antreiben lassen, was unter anderem dafür sorgt, dass Schulterprobleme erst gar nicht oder wenn, so spät als möglich entstehen. Auch das Rollstuhlmobilitätstraining durch Ergotherapeut:innen trägt hierzu bei. Das alles reduziert einen weiteren pflegerischen Aufwand deutlich und senkt somit die Kosten für die Allgemeinheit. Die Auswahl des individuell passenden Rollstuhls hat weitere, mittelbare Auswirkungen auf die Wirtschaftlichkeit wie etwa das Sparen von Ressourcen. Zudem bedeutet ein effizienter Versorgungsprozess weniger Zeitaufwand für sämtliche Beteiligte.
Informationsmaterial zu den vielfältigen Themen der Ergotherapie gibt es bei den Ergotherapeut:innen vor Ort; Ergotherapeut:innen in Wohnortnähe auf der Homepage des Verbandes unter https://dve.info/service/therapeutensuche