COVID-19 hat im Großen und Ganzen seinen Schrecken verloren. „Die meisten haben die Virusinfektion ein- oder mehrmals ohne nennenswerte Komplikationen durchgemacht“, bekräftigt die Ergotherapeutin Miriam Leventic die aktuelle Lage. Ergotherapeut:innen wie Miriam Leventic sind mittlerweile mehrheitlich mit Fällen von Post Covid wie etwa Brain Fog konfrontiert; das RKI (Robert-Koch-Institut) geht derzeit von etwa 6,5% Betroffenen mit Post Covid aus. „Unabhängig vom Schweregrad geht Brain Fog fast immer mit einer Erschöpfung einher“, zitiert die Ergotherapeutin Erkenntnisse aus der wissenschaftlichen Literatur. Energiemanagement ist daher das A & O bei Brain Fog, um Betroffene in die Lage zu versetzen, in ihrem Alltag geschickter mit ihren krankheitsbedingten Schwierigkeiten umgehen zu können. Sie lernen bei Ergotherapeut:innen unter anderem Techniken und Strategien, um ihre mangelnde Konzentration und Aufmerksamkeit, eingeschränkte Handlungsplanung und -durchführung oder gestörte Verarbeitung auditiver und visueller Reize zu kompensieren.
Ergotherapeutische Bestandsaufnahme des Alltags
Als erstes befassen sich Ergotherapeut:innen mit dem Alltag ihrer Patient:innen: Wie verlaufen die einzelnen Tage, wie sieht die Gestaltung der Woche aus und wie ist das Verhältnis zwischen Belastung und Belastbarkeit? Dabei befragen die Spezialist:innen ihre Patient:innen sehr detailliert, um jegliches Veränderungspotenzial, sprich Energiesparmaßnahmen einerseits und andererseits mehr Möglichkeiten zum Auftanken, aufzuspüren. Sie finden heraus, an welchen Stellen sich der Alltag von Dingen entrümpeln lässt, die der betroffenen Person entweder unnötig Energie entziehen, ihr weniger bedeuten als andere oder die sie delegieren kann. Parallel erlernen Menschen mit Brain Fog die Methode „Pacing“, um die jeweils individuellen Belastungsgrenzen aufzuzeigen und einzuhalten. Damit sie Pacing richtig anwenden, üben Ergotherapeut:innen mit ihren Patient:innen diese Vorgehensweise so lange, bis sie ihnen in Fleisch und Blut übergegangen ist und bis es ihnen leicht fällt, das Pacing in ihren Alltag zu integrieren. Bei der regelmäßigen Überprüfung stellen Ergotherapeut:innen fest, ob und wann der- oder diejenige die Dauer der Belastung erhöhen kann. Durch das konsequente Einhalten der Belastungsgrenzen lassen sich die Zeitspannen für einzelne Tätigkeiten kontinuierlich ausdehnen.
Ergotherapeut:innen motivieren Menschen mit Brain Fog Ressourcen zielgerichtet einzusetzen
Unterstützend dazu finden Ergotherapeut:innen gemeinsam mit den von Brain Fog Betroffenen Kompensationsstrategien, die für Entlastung sorgen: Kalender nutzen, wo zuvor jemand alle Termine im Kopf hatte. Apps, die Erinnerungsanstöße oder andere Impulse geben. Journaling, eine Methode, um Gedanken, Aufgaben und alles, was im Alltag wichtig ist, schriftlich zu erfassen. All das dient dazu, die vorhandenen Ressourcen zielgerichtet einzusetzen, das Funktionieren im Alltag zu gewährleisten und die mentale Erschöpfung nicht weiter voranzutreiben. Ressourcen spielen eine zentrale Rolle in der ergotherapeutischen Betrachtung, ebenso wie Akzeptanz und Commitment. Oft sind es jüngere, aktive Menschen, mitten in ihrer beruflichen Karriere, bei denen nach COVID-19 das Post Covid Syndrom mit Brain Fog bleibt. Post Covid ist ein Krankheitsbild mit komplexen Belastungen, Erschöpfungsproblemen und kognitiven Ausfällen. Dies psychisch auszuhalten, ist unglaublich schwer, zumal sich das Gedankenkarussell unentwegt dreht, existenzielle Fragen die Betroffenen beschäftigen, etwa: Werde ich jemals wieder vollständig gesund? Kann ich ausgelagerte oder delegierte Arbeitsbereiche zurückerobern? Sind die einst hoch gesteckten beruflichen Ziele noch erreichbar? Wie sieht es mit den Finanzen aus?
Ergotherapeut:innen verhelfen Menschen mit Brain Fog zu Akzeptanz und Commitment
Es ist die Akzeptanz (der Krankheit oder der Situation), die Betroffene oftmals in ihrer Entwicklung vorwärtsbringt. „Ergotherapeut:innen richten klassisch den Fokus auf die vorhandenen Ressourcen“, sagt Miriam Leventic und fährt fort: „Wir holen unsere Patient:innen an dem Punkt ab, an dem sich gerade befinden und machen ihnen dabei immer wieder ihre Ressourcen bewusst, die ihnen helfen, ihre Defizite zu kompensieren; das stärkt sie und verleiht ihnen eine andere Perspektive“. Das Konzept „Akzeptanz und Commitment“ kommt aus der Verhaltenstherapie und hält verstärkt Einzug in ergotherapeutische Praxen. Zur Akzeptanz, die den Kampf gegen das, was ist, beendet, kommt das Commitment hinzu. Im Commitment ist unter anderem die persönliche Entfaltung enthalten und genau darum geht es auch bei Ergotherapeut:innen: Gemeinsam mit der erkrankten Person den inneren Antrieb herauszufinden und zu erkennen, was das Leben für diesen Menschen wertvoll macht. Und daran orientiert das eigene Leben zu planen und auszurichten, damit die wichtigen Dinge stattfinden können. Auch zu schauen, wie sich Erholungsphasen so gestalten lassen, dass sie der Seele guttun. „Viele entdecken Neues für sich, neue Hobbys, Aktivitäten oder Entspannungsmethoden wie Qi Gong oder Yoga, die Meditation, Konzentration und Bewegung in sich vereinen“, gibt die Ergotherapeutin Leventic Erkenntnisse ihrer Patient:innen weiter. Sie berichtet, dass im Gespräch oft auch verloren geglaubte sportliche, handwerkliche oder musikalische Fähigkeiten oder Interessen aus der Vergangenheit wieder in Erinnerung kommen. All diese Aktivitäten bringen nicht nur die benötigte Erholung, sondern führen oft wichtige Erfolgserlebnisse herbei – ein weiterer positiver Aspekt, auf den Menschen mit Brain Fog ihr Augenmerkt richten können. Denn auch das ist Teil der Reflexion in jeder Stunde: festzustellen, dass tatsächlich schöne Dinge den Alltag prägen und die Wahrnehmung, gar nichts mehr zu können, ein Gedanke, nicht aber Realität ist.
Ergotherapeut:innen beziehen das Umfeld von Menschen mit Brain Fog ein
Ergotherapeut:innen betrachten den Menschen immer in seiner Gesamtheit, was bedeutet, dass sie die Umgebung und die Menschen aus dem Umfeld mit einbeziehen – bei Post Covid und Brain Fog ist dies unerlässlich. „Ich rate meinen Patient:innen immer, von Anfang an ihre Situation transparent zu kommunizieren“, spricht die Ergotherapeutin Leventic aus, was die wenigsten gerne hören. Leventic weiß, wie schwer es den meisten fällt, um Unterstützung zu bitten, selbst wenn von vornherein klar ist, dass ein Weitermachen wie zuvor zum Scheitern verurteilt ist. Gerade im Beruf unterlaufen Menschen mit Brain Fog Fehler, ihre mangelnde Konzentration und verminderte Leistungsfähigkeit fallen unweigerlich auf. Konflikte sind vorprogrammiert, gehen Betroffene nicht direkt auf ihre Kolleg:innen, ihr Team oder ihre Vorgesetzten zu. Ergotherapeut:innen bieten im Bedarfsfall an, gemeinsam ein solches Gespräch zu üben. Häufig machen auditive und visuelle Sinnesreize den Menschen mit Brain Fog zu schaffen, was bei der Arbeit zusätzliche Schwierigkeiten schafft. Ergotherapeut:innen geben auch hierfür Tipps, um Reize abzubauen. Das Ziel: Die Geräuschkulisse während der Arbeit möglichst gering zu halten, sprich Handy auf stumm, keine Musik im Hintergrund oder Gehörschutz tragen, wenn sich der Arbeitsplatz in einem Großraumbüro befindet. Manchmal können Arbeitgeber:innen auch zeitweise ein separates Zimmer zur Verfügung stellen. Um die visuelle Reizüberflutung einzudämmen, empfiehlt es sich, eine spezielle Arbeitsplatzbrille zu tragen, die das Blaulicht des Bildschirms filtert und die Bildschirmeinstellungen entsprechend anzupassen.
Ergotherapeut:innen enttarnen Energiefresser
„Ein weiterer kritischer Aspekt bei Mitarbeitenden im Büro sind oftmals fehlende Abwechslung und Bewegung während der Arbeit und null Erholung während der Pause“, weiß die Ergotherapeutin. Nicht selten sitzen Menschen die ganze Zeit vor dem Bildschirm und bewegen sich nicht vom Arbeitsplatz weg und sogar die Pause verbringen sie dort, meist mit dem Mobiltelefon in der Hand. „Ein kurzer Gang in die Natur oder der Austausch mit Kolleg:innen bringt frische Energie, sorgt für Entspannung und wirkt motivierend für die restliche Zeit“, empfiehlt Miriam Leventic, die gleichzeitig dafür plädiert, bei Brain Fog den Handygebrauch und die Anwesenheit in den sozialen Medien drastisch zu reduzieren. Wie wenig erholsam das bereits für Menschen ist, die nicht durch Brain Fog belastet sind, ist hinlänglich bekannt. Abschließend appelliert die Ergotherapeutin an alle, die Post Covid und Brain Fog überwunden haben, nicht in alte Muster zu verfallen, sondern das Gelernte weiter zu verinnerlichen und zu praktizieren. Das Leben geht weiter, aber am besten im mit ergotherapeutischer Hilfe angepassten Modus.
Informationsmaterial zu den vielfältigen Themen der Ergotherapie gibt es bei den Ergotherapeut:innen vor Ort; Ergotherapeut:innen in Wohnortnähe auf der Homepage des Verbandes unter https://dve.info/service/therapeutensuche