Eine der brisantesten Fragen des aktuellen Zeitgeschehens ist mit Sicherheit, wie die Integration der voraussichtlich in Deutschland bleibenden Kriegsflüchtlinge gelingen kann. Neben einer Vielzahl faktischer Überlegungen ist der psychische Zustand dieser Menschen ein entscheidender Aspekt. „Sie alle haben Grausamkeiten erlebt oder gesehen, mussten Geschehnisse aushalten, die man sich gar nicht vorstellen kann und will.“, wissen Polina Hilsenbeck und Anke Schreiner, Ergotherapeutin im DVE (Deutscher Verband der Ergotherapeuten e.V.). In der Ergotherapie lernen Menschen, die unter den Folgen eines Traumas leiden, stabilisierende Strategien. Auch trainieren sie dort, im Alltag wieder handlungsfähig zu werden.
Ist jeder, der ein traumatisches Ereignis erlebt hat, danach krank? „Nein.“, antwortet Anke Schreiner „Viele haben eigene Bewältigungsstrategien. Manche können darüber reden, was ihnen passiert ist, andere haben eigene hohe seelische Widerstandskräfte oder bestimmte Methoden, sich zu stabilisieren. Man denke nur an die Kriegsgeneration hier in Deutschland. Viele haben am Wirtschaftswunder mitgewirkt. Aber es gab auch damals – und das gibt es immer – Menschen, die sich von traumatischen Ereignissen nicht erholen.“ Neurophysiologisch bedeutet das, dass ihr Gehirn in der Anspannung bleibt, die während der traumatisierenden Ereignisse stattgefunden hat. Dieses fortwährende „In-Hab-Acht-Stellung“ zu sein fordert so viel Aufmerksamkeit von den Betroffenen, dass dadurch unter anderem ihre Konzentration beeinträchtigt wird. „Versuchen Sie es selbst: Etwas zu lesen oder mit jemandem zu sprechen, dabei die Tür im Auge zu behalten ebenso wie andere Personen im Raum oder in der Nähe zu beobachten, alle Geräusche zu beurteilen… Aber das, was sich am schlimmsten nach außen auswirkt, ist, dass gerade wenn es um erlebte Gewalttaten geht, sich dies auf das ganze soziale Gefüge auswirkt. Es ist für manche gar nicht mehr möglich, anderen Menschen nochmal zu vertrauen.“, veranschaulicht die Ergotherapeutin wie sehr gewaltüberlebende Menschen mit einem Traumaleiden. Selbst dann, wenn sie vermeintlich in Sicherheit sind.
Folgen eines Traumas zeigen sich äußerst verschieden
Doch genau das, in Sicherheit zu sein, löst die Traumafolgeerscheinungen aus; diese werden meist nicht innerhalb der ersten Wochen sichtbar. Erst, wenn die Menschen nun nicht mehr im Überlebensmodus sind, können sie – so, wie das aktuell am Beispiel der Kriegsflüchtlinge zu beobachten ist – die unsäglichen Umstände in denen sie sich befinden nicht mehr aushalten. Sie ertragen die ständige Überreizung in den Massenunterkünften nicht mehr, die einen fangen an zu weinen, andere liegen schwer depressiv auf dem Bett und wieder andere randalieren, viele können nachts nicht schlafen, haben Flashbacks. So unterschiedlich sind die Reaktionen auf die zurückliegenden, immens belastenden Lebensereignisse, die diese Menschen durchgestanden haben. Ihre Gedanken drehen sich umso mehr, wenn sie hier sind, darum, dass sie alles was ihnen lieb und wichtig war, Heimat, Familie, Kinder, zurücklassen mussten und auch auf dem Fluchtweg noch schlimmste Erlebnisse hatten. Wer dann wegen seiner massiven Beeinträchtigungen auffällig wird, bekommt beispielsweise Ergotherapie. „Je früher wir helfen, desto weniger chronifiziert sind auch die Auswirkungen, umso eher treten Erfolge ein, umso kürzer kann die Therapie sein.“, erläutert Polina Hilsenbeck, was dem gesunden Menschenverstand einleuchtet. Sie fährt fort: „Wir wünschen uns, dass alle diejenigen, die mit belasteten Menschen zu tun haben, wie es beispielsweise derzeit die Kriegsflüchtlinge sind, sehr genau schauen.“ Alle Ehrenamtlichen, alle Lehrer, alle sonstigen Kontaktpersonen sollten gegebenenfalls ihre Wahrnehmung weitergeben. Denn wer eine Lernblockade zeigt, muss nicht zwangsläufig weniger schlau sein als andere. Das kann andere Ursache haben. Ebenso wie sonstige Auffälligkeiten, denen oft ein Trauma zugrunde liegt. „Die Chancen, Traumafolgestörungen mit Ergotherapie zu beheben, sind ausgesprochen gut.“, betont Anke Schreiner, die schon seit vielen Jahren in diesem Bereich tätig ist und zahlreiche Fortbildungen veranstaltet.
Ergotherapeutisches Stabilitätstraining für traumatisierte Menschen
Aus ihrer Praxis schildert die Ergotherapeutin Schreiner, wie sie bei traumatisierten Personen Gruppen- und Einzeltherapie wechselnd und je nach Situation einsetzt. „In der Einzeltherapie finden wir heraus, welche Stabilisierungsmethoden am besten passen, denn zunächst sind die wenigsten gruppenfähig, wegen der Anspannung, in der sich ihr Gehirn noch durch die Traumatisierung befindet.“, erklärt sie. Danach wird in der Gruppe trainiert: Zum Beispiel auszuhalten, dass nicht jeder so sitzt, dass er die Tür im Blick hat, oder zu kompensieren, dass er gerade von Emotionen überrollt wird, die ihn in eine Ohnmachtsstarre führen und handlungsunfähig machen. Um sich zu beruhigen und wieder in die Konzentration zu kommen, wenden die Patienten dann die in der Einzeltherapie erlernte Stabilisierungsmaßnahme an. Das hört sich einfach an, ist aber ein langwieriger Prozess, bedarf immer wieder wechselnder Einzel- und Gruppentermine, bis das Gehirn irgendwann auf Stabilität gepolt ist und die Menschen mit den Folgen des Erlebten umgehen können. Und bereit sind, an die Aufarbeitung, die Exploration ihres Traumas zu gehen. „Es ist im Interesse der Gesellschaft, traumatisierten Menschen zu helfen. Nur so gelingt es, dass sie ihren Alltag bewältigen, regelmäßig ihrer Ausbildung, ihrem Beruf nachgehen. Oder die Familie versorgen, oder, oder. Und das soll unabhängig von ihrer Herkunft sein. Denn das ist gelebte Integration und Demokratie.“, so das Fazit der engagierten Therapeutin Hilsenbeck.
Informationsmaterial zur Ergotherapie erhalten Interessierte bei den Ergotherapeuten vor Ort; diese sind über die Therapeutensuche im Navigationspunkt „Service“ des DVE (Deutscher Verband der Ergotherapeuten e.V.) auf www.dve.info zu finden. Zur Kampagne der Ergotherapie geht es hier entlang: www.volle-kraft-im-leben.de
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