(Karlsbad) Dass es immer mehr Menschen gibt, die psychisch erkranken, ist bekannt. Dennoch befassen sich nur wenige mit deren Kindern. Und das, obwohl psychisch erkrankte Menschen selbstverständlich ebenso häufig Eltern sind, wie alle anderen Erwachsenen auch. „Die Problemlage von Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil ist äußerst komplex. Ihnen zu helfen, gelingt nur mit individuell passenden Lösungen und einer sorgfältig abgestimmten, interdisziplinären Zusammenarbeit.“, betonen Anna Franke und Bettina Fervers-Marten. Die beiden Ergotherapeutinnen haben sich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt – in der täglichen Praxis, in ihrer Bachelorarbeit und zuletzt in einer gemeinsamen Ausarbeitung, für die sie mit dem Ergotherapie-Preis 2016 des DVE (Deutscher Verband der Ergotherapeuten e.V.) ausgezeichnet wurden.
Die Zahlen sind erschreckend hoch: Einem Bericht des AFET (Bundesverband für Erziehungshilfe e.V.) zufolge erlebt in Deutschland fast jedes vierte Kind unter 18 Jahren ein psychisch erkranktes Elternteil. Das Risiko dieser Kinder, selbst an einer psychischen Störung zu erkranken, ist drei- bis viermal höher als bei den Kindern anderer Eltern. Dennoch: Es gibt Kinder, die gesund bleiben und aushalten, in einem belasteten Familiensystem aufzuwachsen. Innere Stärke, also Resilienz, ist der Grund hierfür.
Ergotherapeuten machen Kinder stark
Studien aus der Resilienzforschung bestätigen, was der Praxisalltag zeigt: Ein konstruktiver Umgang mit den Problemen hilft den Kindern ebenso wie den anderen Familienmitgliedern, sich aufzurichten und zu festigen. Damit hat auch Anna Franke ausgezeichnete Erfahrungen gemacht: „Ich erkläre den Kindern altersgerecht, was zuhause passiert. So sage ich zum Beispiel, dass die Mama eine Krankheit hat, die daran schuld ist, dass sie oft so lange im Bett liegt, so schwierig ist oder den Haushalt nicht macht.“, legt Anna Franke diese Form der Intervention dar. Ergotherapeuten erklären, teils anhand dafür kindgerecht aufbereiteter Literatur, die Zusammenhänge zwischen dem Störungsbild des Elternteils und den Auswirkungen auf den Familienalltag. Findet dies nicht statt, entwickeln Kinder erfahrungsgemäß Schuldgefühle, beziehen das Verhalten des erkrankten Elternteils auf sich. Oder sie leben in einem emotionalen Chaos, weil sie nach außen die Erkrankung als Familiengeheimnis wahren und so tun müssen, als sei alles gut, obwohl das tägliche Leben in der Familie überhaupt nicht funktioniert. Oder sie übernehmen Rollen aus dem Familiensystem, denen sie nicht gewachsen sind.
Ergotherapeutische Intervention zeigt Verschiebungen auf
Im Zusammenspiel der Disziplinen bei der Behandlung von Kindern psychisch erkrankter Eltern ist es die Aufgabe der Ergotherapeuten, die Familie zur Handlungsfähigkeit im Alltag zu befähigen. Ein Aspekt, der dafür sorgt, dass der Alltag ein stabiles Fundament für alle darstellt, ist, dass jedes Familienmitglied seine Rollen ausfüllt. Also die Eltern den Haushalt machen, die Kinder versorgen und die Kinder zur Schule gehen und alle damit verbundenen Aufgaben erledigen. Das ist aber bei Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil oftmals verschoben. „Damit den Eltern diese Verschiebung, die so genannte Parentifizierung der Kinder, als Problem bewusst wird, können wir verschiedene Strategien anwenden. Sehr eindrücklich ist der so genannte Rollenkuchen, ein Tortendiagramm.“, beschreiben die Ergotherapeutinnen eine Vorgehensweise, die den Eltern visuell verdeutlicht, was im Alltag in Schieflage geraten ist und welche ihrer Rollen die Kinder übernommen haben. Mit oder ohne die Kinder erarbeiten sie, welche Rollen es in der Familie gibt. Und notieren dann auf den einzelnen „Tortenstücken“, wer innerhalb der Familie welche Rollen innehat. So lässt sich beispielsweise identifizieren, ob ein Kind Versorger jüngerer Geschwister ist, einkaufen geht, Essen kocht, Haushalt macht. Vielleicht ganz früh am Morgen, damit es danach seine eigentliche Rolle als Schüler so gut wie eben möglich wahrnehmen kann. Oder ob es Partnerersatz und Gesprächspartner ist, über Probleme mit dem erkrankten Elternteil sprechen muss, die es vielleicht noch gar nicht versteht, geschweige denn verarbeiten kann. „Einem Vierzehnjährigen kann man zumuten, einkaufen zu gehen und auch mal Essen zu kochen, ein Fünfjähriger ist damit aber restlos überfordert.“, veranschaulicht Bettina Fervers-Marten an einem simplen Beispiel, warum ein solch verzerrter Alltag insbesondere jüngere Kinder in Dauerstress versetzt.
Ergotherapeuten verhelfen zu Struktur und Lebensfreude
Zusätzlich zu der Rollenverschiebung ist auch die Kommunikation häufig ein den Alltag belastendes Problem. „Ganz auffällig ist“ so die Ergotherapeutinnen, „dass die Familienmitglieder ganz viel übereinander reden, aber kaum miteinander.“ Und dies ist eine weitere wichtige Aufgabe, die Ergotherapeuten haben: Die Eltern und die Kinder dabei zu begleiten, miteinander zu reden. Oder miteinander spielen zu lernen, gemeinsam Spaß haben zu können. Und Dinge des täglichen Lebens zu tun wie gemeinsam Mahlzeiten einnehmen und überhaupt eine gute Strukturierung im Alltag hinzukriegen, indem sie möglichst viele Routinen und Rituale installieren. „Wenn wir das alles mit unserer Arbeit bewirken, ist schon viel gewonnen.“, so das Fazit der beiden Expertinnen zum Thema „Kinder psychisch erkrankter Eltern“.
Informationsmaterial zur Ergotherapie erhalten Interessierte bei den Ergotherapeuten vor Ort; diese sind über die Therapeutensuche im Navigationspunkt „Service“ des DVE (Deutscher Verband der Ergotherapeuten e.V.) auf www.dve.info zu finden. Zur Kampagne der Ergotherapie geht es hier entlang: www.volle-kraft-im-leben.de